Seit einem Jahr nun schon ist Syrien in aller Munde und die Welt sieht zu, wie sich ein lange schon überkommenes Regime beinahe unbeeindruckt von den Bemühungen seines eigenen Volkes zeigt. Dabei wird nicht nur deutlich, dass nach den alten Regeln konsequent gegen Oppositionelle militärisch vorgegangen wird und sich die betroffene Regierung ausnahmslos auf dem rechten Pfade wähnt, sondern im selben Moment auch, wie hilflos sich eine erfahrene internationale Gemeinschaft fühlen kann, wenn sie an ihre diplomatischen Grenzen stößt und eigentlich ein Ende der -political correctness- auszurufen wäre. Doch wie das anstellen, wenn die Rollenverteilung in diesem Drama nicht klar definiert ist?
Präsident Assad, derzeit bevorzugter Böser Bube im Spiel, erweckt gegenüber dem Ausland immer wieder den Anschein, einen nationalen Dialog ankurbeln und über eine neue Verfassung abstimmen zu wollen. Wie diese aber seiner Meinung nach zustande kommen soll, wenn im gleichen Moment Panzer durchs Land rollen, die seine eventuellen Diskussionspartner aus dem Weg räumen und durch ihre Machtdemonstration das Volk einschüchtern, scheint mir völlig unbegreiflich. Hier von einem Krieg gegen das eigene Volk zu sprechen, ist nur ehrlich, womit die Frage bleibt, ob ein Staatsoberhaupt dazu legitimiert ist, Granaten auf seine Nachbarschaft werfen zu lassen, wenn sie sich gegen ihn wendet. Und dies ist das konfliktreiche Moment, an dem besonders Europa und seine Verbündeten in den letzten Monaten arg zu knabbern hatten. In Zeiten der globalisierten Wirtschaft möchte keine Nation sein Ansehen bei anderen in Gefahr wissen, aus Angst, es könnte ökonomische Nachwirkungen geben, die man langfristig nicht kurieren kann. So gesehen erst vor einigen Tagen als Russlands Außenminister Lawrow Einzug in Damaskus hielt, nur um Präsident Assad in seiner Auffassung der Dinge zu bestätigen und im selben Zug den solventen Kunden nicht zu verlieren, der sich seine Waffen aus Russland besorgt. Was kümmert es den Kreml da, ob diese derzeit gegen Revolutionäre und komplett Unbeteiligte eingesetzt werden. Mit Andersdenkenden ist der Große Bruder im fernen Osten schließlich auch nie zimperlich umgegangen. Daher ist es nachvollziehbar, dass man seit Monaten von russischer Seite aus eine UN-Resolution abgelehnt hat, die die Gewaltausübung des syrischen Regimes ausdrücklich verurteilt. Wer unter politischen Aktivisten vorrangig Extremisten ausmacht, die ihr eigenes Land in chaotische Zustände versetzen, um ein militärisches Eingreifen des Auslands heraufzubeschwören, wie es bei Aufständen dieser Art von konservativer Seite her häufig zu hören ist, wird sich nicht gegen die bestehenden Systeme stellen. Mehr noch allerdings hat die Nichteinmischungstaktik den Resteuropäern den Wind aus den Segeln genommen. Denn berechtigterweise bezweifelten die Russen die Rechtmäßigkeit eines Eingreifens der Vereinten Nationen in die Geschehnisse eines Landes gegen dessen Willen.
Die verlustreichen Kriege in Afghanistan und im Irak sowie die Wiederaufbaubemühungen in Gesellschaften, die sich neu sortieren müssen oder wieder in gewohnte Gefüge zurückrutschen, sind uns noch allgegenwärtig. Was diese Militäreinsätze wirklich gebracht haben, werden wir wahrscheinlich erst in einigen Jahren feststellen können. Bis dahin gibt es noch genug israelisch-palästinensische Konflikte, mutmaßliche iranische Atomwaffen und Berufspiraterie vor Afrikas Küsten. Und das ist alles nur die Außenpolitik, bleiben ja noch genug innereuropäische Probleme und auf nationalen Ebenen zu beheben. Mind your own business und hört auf, Weltverbesserer sein zu wollen, während das Risiko auf noch mehr Schaden für die beteiligten Parteien stetig steigt?
Es wäre so einfach, wenn die Globalisierung neben ökonomischen und finanziellen Vorteilen beziehungsweise Chancen für die meisten Volkswirtschaften nicht auch eine gemeinsam getragene Verantwortung füreinander bedeuten würde. Diese wird zwar gern an den Rand des Bewusstseins gedrängt, scheint aber besonders seit einiger Zeit, ausgelöst durch Banken-und Schuldenkrisen, immer populärer zu werden. Mit Recht. Europa braucht diese positive Moralapostelstellung, weil es dadurch beweisen kann, dass die Verabschiedung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen 1948 als Reaktion auf die Vorgänge im 3.Reich und den Kampf um seine Zersetzung, allen genug Unmenschlichkeit vor Augen geführt hat. Man hat schmerzlich grundlegende Lektionen gelernt, die fest in der Geschichte vieler Nationen verankert bleiben. Diese Moralität, wahrscheinlich auch leicht auszunutzen und zu instrumentalisieren, wollen genau jene Völker von uns, in deren Heimatländern der Mensch selbst nicht genug respektiert wird oder es eine Wertunterscheidung gemessen am sozialen Stand gibt. Wer da wieder Eurozentrismus schreit, ignoriert all jene Stimmen, die sich gerade in der arabischen Welt um genau die Art von Demokratie bemühen, die sie aus den Medien von uns kennen. Niemand sollte, allein schon aus Respekt vor den Interessen und Wertvorstellungen anderer Kulturen, versuchen, Syrien zu europäisiseren. Das politische Modell allerdings muss erstmal exportiert werden, so dass sich die Menschen kreativ damit auseinandersetzen können. Doch wie das tun und wem Gehör schenken? Vielleicht sind es am Ende auch die syrischen Bürger, die sich zu viel von Europa erhoffen? Der Weg von der Aufklärung zum volksbestimmten Staat war ein steiniger und brauchte auf unserem Kontinent Jahrhunderte um zu reifen. Er war verbunden mit der Zuwendung zum Individuum, das sich durch die Abkehr von Religion und der Neuverteilung von Wohlstand im Zuge von Bildung und Wirtschaftsentwicklung, mündig machte und in den Mittelpunkt des Geschehens rückte. Wieviel davon ist schon passiert in Syrien oder kann es überhaupt auf anderem Wege zu einem solchen Ergebnis kommen? Natürlich kann ein Präsident Assad, in dessen Kultur diese lange auseinandersetzungsreiche Entwicklung nicht tief verankert ist, die Entrüstung der Außenstehenden nicht zu ernst nehmen. Wahrscheinlich handelt er auch vollkommen logisch nach seinen Traditionen. Wie soll also eine arabische Demokratie aussehen, die von heute auf morgen durch einen Putsch vieler durchgesetzt wird, wenn die daran geknüpfte Idee vom Menschen nicht oder nicht ausreichend vorhanden ist? Sollte dem doch so sein, dann haben wir ziemlich viel verpasst in den letzten Jahren und der Ararbische Frühling ist ein weiterer Beweis dafür, dass wir uns weltweit gern gegenseitig unterschätzen und am liebsten das Beste von uns selbst halten.
Hat Europa angesichts seiner Vergangenheit demnach die Pflicht, sich einzumischen oder muss Syrien sich selbst aus den Zwängen seines Regimes befreien, um selbstbewusst und gestärkt in die Zukunft zu schauen, welche es allein bestimmen wird? Lasst das syrische Volk entscheiden.